Warum eine Reform der Anlagenzertifizierung nötig ist
Um die Klimaschutz- und PV-Ausbauziele des Bundes bis 2030 zu erreichen, müssen in den kommenden Jahren eine große Anzahl von Solaranlagen in der Leistungsklasse 135 kW bis 950 kW auf Freiflächen sowie auf Wohn- und Nichtwohngebäuden ans Netz angeschlossen werden. Ab 2026 wäre gegenüber heute eine Verdreifachung des jährlichen PV-Zubaus notwendig. Um so wichtiger ist es Ausbauhürden zu beseitigen, mit denen sich PV-Anlagenbetreiber, Planer und Projektierer derzeit konfrontiert sehen.
Daher hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) Entlastungen für PV-Anlagen in der Größenklasse über 100 kWp angekündigt. PV-Anlagen dieser Leistungsklasse werden an das Mittelspannungsnetz angeschlossen. Für sie gelten die Technischen Anschlussbedingungen – kurz TAB und die VDE-AR-N 4110 als rechtliche Grundlagen. Um einen dauerhaften Netzzugang zu erhalten, müssen die PV-Anlagen zunächst einen aufwendigen Zertifizierungsprozess durchlaufen. Dieser zieht hohe Kosten für die Anlagenbetreiber nach sich.
Nun liegen dem BMWK Vorschläge für eine Reform der Anlagenzertifizierung vor, die kurzfristig für Entlastung bei der Anlagenzertifizierung sorgen können. Denn bislang gab es Entlastungen vor allem bei kleineren PV-Anlagen mit einer Leistung weit unter 100 kWp und vor allem im privaten Bereich. Zwar zielen die Neuregelungen des EEG 23 auch auf PV-Anlagen für Gewerbe und Dienstleister ab und gibt es eine staatliche Photovoltaik Förderung für sie, doch der lange und aufwendige Zertifizierungsprozess verzögert eine schnelle und unbürokratische Inbetriebnahme für PV-Anlagen dieser Größenordnung weiterhin. Zudem führen die hohen Zertifizierungskosten zwischen 5.000 und 20.000 Euro bei einer Inbetriebnahme von PV-Anlagen im Mittelspannungsfeld zu einer geringeren Wirtschaftlichkeit der Anlagen.
Erste Entlastungsregelungen nicht ausreichend
Zwar wurden Ende Juli 2022 mit der Änderung der Verordnung zum Nachweis von elektronischen Eigenschaften - kurz NELEV erste Entlastungsregelungen beschlossen. So greift mit dem „Anlagenzertifikat unter Auflage“ eine Übergangsregelung, um die EE-Anlagen schneller ans Netz zu bringen. Doch so richtig weitreichend waren die bisherigen Änderungen nicht. Der Zertifizierungsstau bei den EE-Anlagen im Mittelspannungsfeld blieb weiterhin bestehen.
Denn auch das „Anlagenzertifikat unter Auflage“, bei dem EE-Anlagen bereits ohne ein vollständiges Anlagenzertifikat B ans Netz gehen können, bringt einiges an Aufwand mit sich. So sind auch beim Anlagenzertifikat unter Auflage bestimmte Mindestauflagen zu erfüllen. Nach 18 Monaten müssen die noch fehlenden Dokumente für das Anlagenzertifikat B nachgereicht werden. Andernfalls droht den Anlagenbetreibern, dass die Anlage wieder vom Netz genommen wird. Somit hindert der komplizierte und teure Zertifizierungsprozess Gewerbebetriebe und Unternehmen oft daran, ihren eigenen günstigen Solarstrom zu erzeugen. Dabei können gerade Gewerbe und Dienstleister von der Solarenergie profitieren. Sie bietet viele Vorteile.
Entbürokratisierung aktiviert PV-Potenziale für Gewerbe und Dienstleister
Gewerbetreibende, die zum Beispiel über große Dachflächen verfügen und einen hohen Strombedarf haben, können das Potenzial der PV für sich voll ausschöpfen. Denn mit jedem Quadratmeter Modulfläche sinken die Gestehungskosten und eine PV-Anlage kann besonders wirtschaftlich betrieben werden - wenn diese Vorteile nicht durch hohe Zertifizierungskosten aufgezehrt werden und damit den wirtschaftlichen Betrieb einschränken.
Deshalb soll nun das PV-Potenzial im Mittelspannungsbereich aktiviert und damit das Ausbautempo der erneuerbaren Energien in diesem Segment erhöht werden. Mit der PV-Strategie sind die Weichen gestellt. Sie definiert Handlungsfelder und Maßnahmen. Dazu gehören beispielsweise der Ausbau der Freiflächen-PV, Erleichterungen für PV-Dachanlagen, Mieterstrom, Beschleunigung des Netzanschlusses, Stärkung der Akzeptanz, wirksame Verzahnung von Energie- und Steuerrecht, Ausbau europäischer Fertigungskapazitäten, Fachkräftesicherung und Technologieentwicklung.
Erleichterungen für PV-Anlagen auf Gewerbedächern
Ende April kündigte das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) nun eine weitere Reform zur Entbürokratisierung an. Diese nimmt das bestehende Zertifizierungsverfahren für mittelgroße Erzeugungsanlagen ins Visier. Damit solche PV-Anlagen schneller ans Netz gebracht werden können, soll es deutliche Erleichterungen für EE-Anlagen in der Leistungsklasse zwischen 135 und 270 kW geben, die auf Gewerbeimmobilien installiert werden.
Das betrifft Solaranlagen, die an eine Niederspannungs-Kundenanlage angeschlossen und über einen Mittelspannungstrafo mit dem Stromnetz verbunden sind. Solche PV-Anlagen auf Gewerbedächern mussten bislang die Anforderungen der Mittelspannungsrichtlinien erfüllen. Damit galt für sie die Pflicht, den Nachweis eines Anlagenzertifikats B zu erbringen. Diese Zertifizierungspflicht soll nun künftig bei Anlagen bis 270 kW Gesamteinspeisung entfallen. Die Nennleistung der PV-Anlagen darf 500 kW betragen.
Veränderte Vorgaben für Mischanlagen
Sogenannte Mischanlagen sollen nach den Regeln der Niederspannungsrichtlinie an das Netz angeschlossen werden. Ab einer kumulierten installierten Leistung von mehr als 270 kW ist ein übergeordneter Entkupplungsschutz am Mittelspannungstrafo zu installieren. Dies ist durch ein Prüfprotokoll nachzuweisen.
In vielen weiteren Fällen soll die Einzelanlagenzertifizierung ganz entfallen und hier die typenbezogenen Einheitenzertifikate des Herstellers als Nachweis der Netzverträglichkeit dienen. Diese sind bereits heute über die Einheitenzertifikate-Datenbank der Fördergesellschaft Windenergie und Dezentrale Energien e.V. (FGW) abrufbar. Die Datenbank soll zukünftig eine Aufwertung erfahren und als verbindliche Grundlage für ein zukünftig schlankeres digitales Zertifizierungsverfahren dienen.
Begleitende Anpassungen zur Umsetzung der Reform der Anlagenzertifizierung
Um die Anschlussregeln für PV-Anlagen in der entsprechenden Leistungsklasse ändern zu können, muss das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) erneut geändert werden. Darüber hinaus betrifft die Reform der Anlagenzertifizierung auch die Verordnung über den Nachweis der elektrischen Eigenschaften von Energieanlagen (NELEV) und es wird eine neue Technische Anforderungsverordnung (TAV) geben.
Bisher liegen dem Ministerium drei Referentenentwürfe vor, die zur Anhörung freigegeben sind. In dieser Phase können Verbände Stellung nehmen und es sind noch Änderungen möglich. Nach der Veröffentlichung im Bundesanzeiger treten die Verordnungen kurz darauf in Kraft.
Fazit: Kleine Reform mit großer Wirkung?
Auch wenn die Reform nicht alle PV-Anlagen im Mittelspannungsbereich betrifft, können hier vor allem Anlagenbetreiber aus dem Gewerbe- und Dienstleistungsbereich von den Entlastungen profitieren. Dies könnte der Solarbranche einen weiteren Schub geben. Für größere PV-Anlagen bleiben die hohen bürokratischen Anforderungen jedoch vorerst bestehen, um die Versorgungssicherheit und Netzstabilität weiterhin zu gewährleisten.